Voraussetzungen für Spitzentanz

Lange galt für den Beginn eines Trainungs mit Spitzentanz das 12. Lebensjahr als die magische Zahl. Es sollte jedoch insgesamt die funktionelle Beurteilung des Körpers im Vordergrund stehen. Den Wachstumsabschluss des Fußes abzuwarten hilft nicht, da der meistens erst mit 13 bis 16 Jahren bei Mädchen eintritt. Dies wäre für eine professionelle Karriere zu spät.

Voraussetzungen für Spitzentanz sind:

  • Plantarflexionsfähigkeit von 90 Grad im Sprunggelenk, in Kombination mit einer vertikalen Achse von vorderer Begrenzung des Unterschenkels, Sprunggelenk und Mittelfußknochen. So entsteht eine biomechanisch optimale Beinachsenausrichtung.
  • Eine Beweglichkeit im Großzehengrundgelenk von mindestens 90° in der Streckung (Dorsalextension), um im Spitzenschuh auf- und abrollen zu können.
  • Eine ägyptische oder kubische Fußform – als „ideal“ gelten dabei kurze Zehen von annähernd gleicher Länge. Ist insbesondere die zweite Zehe länger als die Großzehe, entsteht Druck auf die Mittelfußknochen, was zu Reizungen, Entzündungen und Verformungen mit Folgeschäden führen kann.
  • Genügend Kraft und neuromuskuläre Kontrolle in den unteren Extremitäten, eine ausreichende Rumpfkontrolle, eine gute Kontrolle der Beckenmuskulatur, insbesondere der Abduktoren (ohne genügend Kraft in den Abduktoren ergibt sich eine Supinationsneigung („Umknicken nach außen“) im Sprunggelenk).
  • Ein Minimum von 4 Jahren an vorausgehendem ernsthaftem Tanztraining mit mindestens 2 -3 Klassen pro Woche.
  • Grundlegende technische Bewegungen wie Plié und Relevé sollten sauber und exakt ausgeführt werden können.
  • Zur Überprüfung der Spitzentanztauglichkeit für Kraft, Alignement sollten Standard-Tests durchgeführt werden. Dazu gehören der Airplane-Test, Balance-Tests im Relevé in Passé Position von ca. 30 Sekunden, Sprung-Tests auf einem Bein mit angelegtem Spielbein mit 16 maliger Wiederholung u.a.
  • Im Alter von 12 Jahren kann (aber nur) bei entsprechender Trainingsvorbereitung und körperlicher und neuromuskulärer Eignung sowie weitestgehender Entwicklung der sensomotorischen Systeme am ehesten von einen sinnvollen Alter, um mit dem Spitzentanz beginnen zu können, gesprochen werden.

Spitzentanz, sicher und in Perfektion ausgeführt, ist eine wunderbare Kunstform und gehört selbstverständlich zu jeder Ausbildung in klassischem Ballett dazu. Im Amateurbereich, für Kinder wie auch für Erwachsene, sollte die Ausführung von Spitzentanz jedoch kritisch hinterfragt werden, insbesondere, wenn die notwendigen oben genannten Voraussetzungen nicht vorhanden sind.
Als Statement möchte ich hier meine Berufskollegin und hervorragende Tanzmedizinerin und Pädagogin Judith-Elisa Kaufmann aus ihrem Fach- und Arbeitsbuch zur Tanzpädagogik zitieren:
„Das Argument, Ballett wäre nur Ballett, wenn es auf Spitze getanzt würde, muss widerlegt werden: Pädagogen (…) von Amateurklassen sind herzlich eingeladen, einen Schwerpunkt auf eine Kombination von Technikklassen und Choreographie zu legen. Haben Amateure die Möglichkeit, wunderschöne, klassische Choreographien in ihrem Leistungsrahmen zu tanzen, wird dabei die Sehnsucht nach dem Ballett besser gestillt werden können, als wenn sich dieselben Amateure mit hoher Instabilität, Unsicherheit und Verletzungsgefahr auf Spitze quälen.“ (Kaufmann, Judith-Elisa. 2016. Tanzpädagogik & Tanzmedizin: Die Symbiose der Zukunft. Remscheid: Rediroma-Verlag).
Hinzufügen möchte ich noch, dass bei der Auswahl einer Ballettschule, insbesondere wenn dort auch Spitzentanz gelehrt wird, sehr genau überprüft werden sollte, ob sich die Lehrenden auch an den oben genannten notwendigen Voraussetzungen orientieren bzw. diese überhaupt kennen. Ein Eingliedern der Schüler*innen bzw. des Kindes in eine Klasse, die einfach dem Alter entspricht, eine Erlaubnis zur Teilnahme am Spitzentanz, weil er einfach zum Ballett dazugehört oder weil sich das Kind das so sehr wünscht (ganz abgesehen von Müttern, die ihren eigenen Traum durch das Kind erfüllen möchten) ohne vorherige Überprüfung der Tauglichkeit, ist absolut fahrlässig und im schlimmsten Fall gesundheitsschädlich.

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